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Grenzerfahrungen

Von Süd nach Nord, quer durch Europa: Vor Elke Streicher liegen 4.485 Kilometer. (Bilder: Privat)

Ankommen. Das ist das Ziel. Bei diesem Rennen geht es nur ums Durchhalten. 64 Tage, 4.485 Kilometer. Beim zweiten „Transeurope-Footrace“ laufen die Teilnehmer vom unteren Zipfel Italiens bis zum Nordkap Norwegens. Für viele ist das unvorstellbar, für die Ultramarathonläuferin Elke Streicher ist es ein Lebensgefühl.

Mit Kribbeln am Bauch an der Startlinie

„Ich brauche eine Herausforderung bei der ich mir selbst gar nicht vorstellen kann, dass ich es schaffe. Mit Kribbeln im Bauch an der Startlinie“, sagt die 42-Jährige und ihre blauen Augen funkeln dabei. Seit zwei Jahren steht der 19. April in ihrem Kalender – an diesem Tag startet das „Transeurope-Footrace“ im italienischen Bari. Am 21. Juni will Elke Streicher an einem der nördlichsten Punkte Europas stehen.

Morgens um vier geht das Licht an

Dazu braucht es einen eisernen Willen. Nur so lassen sich die Strapazen ertragen, die die Läufer ihrem Körper abverlangen. „Morgens um vier geht das Licht an, um sechs laufen wir los. Nach einem ganzen Tag auf den Beinen gleichen die Turnhallen, in denen wir übernachten, abends einem Lazarett“, weiß Elke Streicher aus Erfahrung von anderen Läufen.

Es ist eine Kopfsache

An Schlaf ist bei 68 Läufern in einem Raum oft nicht zu denken. Doch am nächsten Morgen geht es weiter. Erbarmungslos. „Ich konzentriere mich immer nur auf die nächste Etappe. Dort anzukommen ist das Wichtigste. Und plötzlich hat man die Hälfte der Strecke hinter sich“, weiß die Gerlingerin. „Es ist eine Kopfsache.“ Denn als Supersportlerin durchläuft man extreme Tiefpunkte. „Manchmal frage ich mich, warum tue ich mir das an? Aber dann erinnere ich mich daran, wie viel Arbeit jetzt schon dahinter steckt und welch großer finanzieller und organisatorischer Aufwand. Und dann mache ich weiter“, sagt sie.

60 bis 70 Kilometer am Wochenende

Zwei bis drei Stunden trainiert Elke Streicher täglich, morgens um fünf vor der Arbeit. Wenn die Sonne über den Horizont kriecht und die Vögel ihre ersten Lieder trällern, zieht die promovierende Bauingenieurin auf der Gerlinger Tartanbahn oder im Wald um die Bärenseen ihre Runden. Am Wochenende sind längere Distanzen angesagt: 60 bis 70 Kilometer sind keine Seltenheit.

Elke Streicher ist ein Kämpfertyp
Am liebsten läuft sie auf dem Rössle-Wanderweg rund um die Landeshauptstadt und genießt die atemberaubenden Ausblicke. So erfüllt sie ihr Pensum von mehr als 150 Kilometern pro Woche.
Ein Kämpfertyp war Elke Streicher schon immer. Bereits als Teenager ging sie ihren eigenen Weg. Brach das Gymnasium ab, um auf eigenen Beinen zu stehen.

Während des Studiums begann sie zu laufen
Doch der Job machte ihr keinen Spaß. Deshalb holte sie mit 25 ihr Abitur nach, kündigte und studierte Bauingenieurwesen an der Universität Stuttgart. Viele Freunde erklärten sie für verrückt, doch Elke Streicher ließ sich nicht beirren – heute ist sie froh darüber. „Ich wäre sonst nicht glücklich geworden“, sagt die Sportlerin. Und sonst hätte sie vielleicht nie ihre Leidenschaft für Ultramarathonläufe entdeckt: Während des Studiums begann sie zu laufen, als Training für eine Nepal-Reise ins Everest-Gebiet. Danach trainierte sie einfach weiter.

Schnell ist sie nicht, aber ausdauernd

Ihren ersten Marathon lief sie in Berlin, jedes Jahr folgte ein weiterer und die Strecken wurden immer länger: 42 Kilometer, 100, 1.000. „Ich war schon immer ein Ausdauertyp. Sehr schnell bin ich nicht, aber ich kann meine Geschwindigkeit lange halten, das ist mein großes Plus. Wenn ich einmal im Trott bin, läuft es wie von selbst“, erzählt Elke Streicher lächelnd.

Ultramarathonläufer sind starke Presönlichkeiten

Und das tut es. 2008 gewann sie den Deutschlandlauf über 1.200 Kilometer und den Double Ultra Triathlon in Ungarn. „Ich liebe es, an meine Grenzen zu gehen“, verrät die Power-Frau. Und sie genießt die familiäre Atmosphäre und das länderübergreifende Miteinander. „Das ist nicht so anonym wie bei einem Marathon. Man kennt sich. Ultramarathonläufer sind starke Persönlichkeiten mit einem extremen Lebenswillen, einfach tolle Menschen.“

All die Entbehrungen stärken

Wer Elke Streicher schwärmen hört von Herzlichkeit und neu gewonnenen Freunden, vergisst beinah, welche Strapazen sie dafür auf sich nimmt. Im Plauderton erzählt sie von geschwollenen Füßen, Verletzungen und Schmerzen. Doch aufgeben würde sie niemals. „Ich durchlebe Höhen und Tiefen. Aber das Gefühl, wenn ich über die Ziellinie laufe, ist einfach unglaublich. Und nach all den Entbehrungen gehe ich gestärkt aus jedem Rennen hervor“.

Dosenweise Nahrungsergänzungsmittel

Sechzehn Schuhkartons stapeln sich im Flur von Elke Streichers Wohnung. Laufschuhe in zwei verschiedenen Größen für den Transeuropalauf. Wenn ihre Füße beginnen anzuschwellen, muss sie die Schuhe wechseln. Oben im Wohnzimmer stehen Dosen mit insgesamt neun Kilogramm Eiweiß – gegen den Muskelabbau, der bei solchen Läufen auftritt. Auf dem Boden daneben liegen Nahrungsergänzungsmittel.

Bei Süßigkeiten muss sie aufpassen

„Ich bin Vegetarierin“, erklärt Elke Streicher. Probleme hatte sie deswegen noch nie. Aber wer glaubt eine Ausdauersportlerin könne alles essen, der irrt. „Bei Süßigkeiten muss ich aufpassen“, verrät sie. Außer im Wettkampf, da ist alles erlaubt.

Ihr Sport ist eine Lebenseinstellung

Ihr Sport ist längst mehr als ein Hobby – er ist eine Lebenseinstellung geworden. „Seit ich Ultraläufe mache, habe ich mich ziemlich verändert. Ich bin mental stärker und selbstbewusster geworden. Und ich weiß: Alles ist möglich, wenn man sich Ziele setzt. Auch im Beruf.“ Man muss nur wollen. Und Elke Streicher will.

Motivation ist alles und davon hat die Läuferin eine Menge. Noch nie hat eine Europäerin bei einem Kontinentallauf das Ziel erreicht.

Es gibt immer neue Herausforderungen
Genug Ansporn für Elke Streicher. Am 21. Juni möchte sie am Nordkap stehen und die Mitternachtssonne genießen. „Danach habe ich wahrscheinlich erstmal genug vom Laufen“, schmunzelt sie. Doch ihr nächster Traum steht schon fest: Irgendwann einmal möchte sie am härtesten Radrennen der Welt teilnehmen. Am „Race Across America“ – 5.000 Kilometer nonstop von der West- bis an die Ostküste. „Es gibt immer eine neue Herausforderung.“ (CH)

"Ich kann meine Geschwindigkeit halten, das ist mein großes Plus."
"Ich liebe es, an meine Grenzen zu gehen," sagt Elke Streicher.

(Ausgabe Mai 2009)